Reisen als Drama

Eine Reise muss Dramen enthalten. Warum sonst hätte man aufbrechen sollen? Idealerweise kommen die Dramen wohldosiert. Hier ein fehlender Splint, dort ein verstopfter Filter. Ereignen sich viele Dramen auf einmal, schaltet der Reisende in den Überlebensmodus. Augen zu und durch. Ist alles überstanden, merkt er vielleicht: Ich bin traumatisiert. Das waren zu viele Dramen.

Die südliche Nordsee ist an sich schon ein Drama. Grosse Teile sind TSS, Traffic Separation Schemes. Hier dürfen nur grosse kommerzielle Schiffe fahren. So zwängen sich Segelschiffe zwischen Küste, Untiefen und die Einbahnstrassen des TSS. Und Schifffahrtsrouten zu Häfen, etwa vor Rotterdam, die das Segelgebiet quer zerschneiden. Da schaltet sich dann „Maas Control“ per Funk ein und gibt einem die Route vor, samt Wünschen an die Geschwindigkeit. Unter Segeln ist das so eine Sache. Als ob das nicht schon genug wäre, pflastern riesige Windparks das Gebiet zu. Es gibt zwar Vorschriften, wie man sie durchfahren kann. Aber nachts ist die Querung verboten. Der Raum ist eng unter Segeln.

Untiefen mitten im Kanal

Schliesslich liegen Untiefen mitten im Kanal, die wir im Eifer des Gefechts auf der Karte nicht so ernst genommen haben. Der Wind hat inzwischen zugenommen, Starkwind, sieben Beaufort, Böen bis 40 Knoten, die Wellen gehen hoch. Plötzlich werden sie zu Türmen. Wir sind über einer Untiefe, nur noch fünf bis zehn Meter Wasser unter uns. Als ob das nicht genug wäre, reisst in genau diesem Moment die Fock aus ihrer Halterung, der Nut. Mit ohrenbetäubendem Knallen schlagen ihre Schoten die Reling backbords zu Bruch. Auf dem rollenden und schwankenden Vordeck, die eine Hand am Schiff, die andere am Bolzenschneider, zertrenne ich Schoten und Fall und versuche die Fock aus dem Wasser zu ziehen. Wider Erwarten gelingt es. Ich lasche die Fock an der Reling fest und robbe zu meinen Mitsegler ins sichere Cockpit.

Daraufhin gibt es einen Knall und die Grossschot löst sich vom Baum. Das gereffte Grosssegel wird nach vorne auf die Wanten gedrückt. Das Schiff ist so gut wie manövrierunfähig, wir können nur noch vor dem Wind ablaufen.

Das Drama wird Trauma

Wie wir es von den Untiefen bis in die Marina von Dünkirchen geschafft haben, ist erstaunlich. Es ging nur, weil wir beide ruhig und konzentriert blieben, trotz durchsegelter Nacht.

Das Trauma kam danach.

Kann man einem Schiff vertrauen, bei dem unter schwierigen Bedingungen Teile zu Bruch gehen, die sicherheitsrelevant sind? Oder lag es an uns? War die Fock zu gross für Starkwind, das Grosssegel zu wenig gerefft? Hätten wir die Route besser planen müssen, abseits der Untiefen? Sollte man bei sieben Windstärken lieber im Hafen liegen, selbst wenn der Wind – endlich – aus der ersehnten Richtung kommt?

Der Zwischenfall wird zum Wendepunkt der Reise. Ich beginne dem Schiff zu misstrauen. Wie kann ich so über den Atlantik segeln? Wie kann ich so überhaupt weitersegeln? Das Drama bleibt – als Trauma.

Mein Mitsegler geht eine Woche später von Bord. Die Überquerung der Biskaya kann er sich so nicht vorstellen.

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