Männer mit wehenden Röcken, Frauen in Tüchern verhüllt. Vernarbte, schreckliche Wunden, Bettlerinnen und Bettler mit hohler Hand, rennende Kinder, betende Männer auf dem Bootssteg, Verwesungs- und Grillgeruch in der Luft, Lastwagen auf der Gegenfahrbahn. Marokko ist eine einzige Reizüberflutung. Für drei Wochen tauche ich in eine Parallelwelt zu Europas langweiliger Vorhersagbarkeit. Dann bin ich voll und fliehe, glücklich.
Eigentlich interessieren mich Städte nur am Rand. Und dann landet Reykja in Rabat und ich fahre mit dem Zug nach Fez. Ich erkenne mich selber nicht wieder. Meine sorgsam gehätschelte Soziophobie löst sich in Luft auf, kapituliert vor der Faszination menschlicher Vielschichtigkeit und Emotionen in den Medinas: Auf dem Tresen schlafende Verkäufer, Höhlen mit Tisch und Stuhl, deren Sinn ich nicht ergründen kann, mittelalterliche Gerbereitröge, Feilschen, Gedränge, Waren bis zu Decke, spitze arabische Schuhe in zwanzig Läden hintereinander, blaue und weisse Kaftane in ganzen Strassen. Alles vibriert, schreit und drängelt. Tagelang lasse ich mich treiben. Den inneren Kompass habe ich längst verloren, einzig Google Maps hält mich notdürftig auf Kurs. In Fez den Ausgang aus der Medina zu finden, ist eine Kunst.
Sahara im Sommer
Ich miete ein Auto und fahre in die grossen Landschaften. Nicht jeder kommt auf die glorreiche Idee, im Hochsommer in der Sahara wandern zu wollen. So finde ich mich denn ziemlich allein mit Rucksack und Wanderstöcken im Erg Chebbi. Das heisst: Ich finde mich allein als Wanderer. Um die Ohren flitzen mir Horden von Quads mit marokkanischen Jugendlichen, die erfolgreich jede noch so ästhetische Wanderdüne plattwalzen. Die Wüste ist genauso zur Kulisse der Vergnügungsgesellschaft degradiert, wie das Meer für die Horden der Jetskis. Hauptsache schnell, laut und sinnfrei. Erst als es dunkel wird, bin ich allein in der Wüste.
Wandern im Sand bei über 40 Grad erschöpft meine Kräfte schnell. Mein Magen kämpft noch mit einem Durchfallvirus aus Fez. Ich bin zu schwach, die lächerliche 200 Meter hohe Wanderdüne Lala Achlia zu erklimmen, selbst nachts nicht, bei Vollmond.
Palmen im Sand
Dafür entdecke ich mit dem Auto die Welt der Palmenoasen. Grüne Täler in der Wüste, mit ausgeklügelten Bewässerungssystemen, Wohnsiedlungen, Kashbas aus Lehm, Äckern, Früchten – und viel kühlendem Schatten. Trotz Internetrecherchen wird mir nicht klar, wie intakt diese Welt ist. Es gibt Kassandrarufe in Medien. Längst fliesst das Wasser nicht mehr in Flüssen, Brunnen mit Dieselgeneratoren zapfen das Grundwasser an. Da sind Palmenhaine gelb und vertrocknet. Andere hingegen sehen fett und grün aus, die Äcker bestellt. Die Arbeit sei nicht hart, erklärt mir ein Bauer, der mit der Spitzhacke in glühender Sonne einen Kanal reinigt. Das Problem sei der Verkauf.
Nach einigem Zögern nehme ich Tramper mit. Eine Panne auf den glutheissen Strassen, und ich wäre angewiesen auf andere. Tramper sind angewiesen auf mich. Die Polizeiposten vor den Städten sehen Mitfahrer gar nicht gern. Einem jungen Beduinen greifen sie in die Kaftantaschen und warnen mich vor ihm. Ich kann nicht einschätzen, wie recht sie haben. Die Westsahara mit der Polisario Befreiungsarmee ist nicht weit. Ein andermal tauchen nachts um zwölf drei Beamte mit Taschenlampen an meinem Biwakplatz auf und laden mich freundlich aber bestimmt ein, gegenüber der Polizeiwache auf einem Feld weiterschlafen. „Zu meiner Sicherheit“, sagen sie.
Marokkos grossartige Gebirgs- und Felswüsten werden im Winter ein Paradies zum Wandern sein. Allerdings wäre ich dann wohl nicht mehr der einzige Reisende.