Zur Weltbesegelung gehört der Sturm. Sturm garantiert Klickzahlen auf Youtube, umgibt die segelnde Person mit der Aura des Helden. Kein Wunder wird mit diesem Wort Schindluder getrieben. Aber gerät man wirklich in einen Sturm, verändert er das Schiff und den Segelnden massiv.
Sturm ist Wind mit einer Geschwindigkeit von 41 – 47 Knoten (Seemannschaft. Handbuch für den Yachtsport, S. 578), oder 9 Beaufort Windstärke. Auf Englisch ist man im „storm“ bei 48 – 55 Knoten, 10 Beaufort Windstärke. Segelt ein deutschsprachiger im Sturm, ist die angelsächsische Person noch im „gale“. So weit, so unklar. Englischsprachige sind vielleicht härter im Nehmen?
Aber bin ich im Sturm, wenn vereinzelte Böen 45 Knoten erreichen, oder muss es dauerhaft so stark wehen? Rede ich vom wirklichen Wind, den die Wettervorhersage anzeigt, oder vom scheinbaren Wind, den ich auf dem Schiff erlebe? Unterschiede hier sind immens.
Subjektiv ist nicht objektiv
Angenommen: Die Wettervorhersage zeigt 30 Knoten Wind. Es herrscht „steifer Wind“ oder „moderate gale“, Beaufort 7.
Gegen diesen Wind anzusegeln, also hoch am Wind zu segeln, ist fast unmöglich. Die Wellen kommen seitlich von vorne, der Bug schlägt hinein, REYKJA wird abgestoppt, nimmt wieder Fahrt auf. Gischt spritzt mir um die Nase. Der Krach ist ohrenbetäubend, Wasser knallt auf Stahl, der Wind pfeift um die Masten. Weil ich gegen den Wind segle, zeigt der Windmesser 35 Knoten Wind an Bord. „Stürmischer Wind“ oder „gale“, Beaufort 8.
Jetzt drehe ich das Boot und segle mit dem Wind. Plötzlich wird es ruhig. Die Wellen kommen von hinten, das Schiff nimmt Fahrt auf, wird teilweise rasant schnell. Segeln ist ein Vergnügen. Der Windmesser zeigt 23 Knoten, „starker Wind“ oder „strong breeze“, 6 Beaufort.
In beiden Situationen herrscht ein wahrer Wind von 30 Knoten. Je nach Kurs erlebe ich auf dem Schiff zwei unterschiedliche Welten. Wovon redet der Segler oder Youtuber, der im „gale“ segelt? Vom wirklichen Wind der Wettervorhersage, oder vom scheinbaren Wind an Bord?
Und redet er von den Böen? Denn bei 30 Knoten Wind nach Wettervorhersage, kann eine Böe schnell einmal mit 40 oder 45 Knoten blasen. Für kurze Zeit bin ich im Sturm, beziehungsweise strong gale, dann wieder herrscht steifer Wind, moderate gale. Rede ich von der Ausnahme, die mich zum Helden macht, oder vom Durchschnitt, der nicht der Rede wert ist?
Objektiv schwierig ist subjektiv schlecht
Mein Kurs geht von Tasmanien nach Tonga. Für die Südostspitze Australiens ist starker Wind vorhergesagt. Je näher ich komme, je bedrohlicher verändert sich der Wetterbericht. Schliesslich popt eine eindrückliche Sturmwarnung auf dem Tablet auf: „This is a dangerous weather event that includes cyclonic conditions”.
Meine Reaktion: Verleugnung.
Es kann nicht sein, dass diese Warnung mich betrifft. Es herrscht guter Wind, REYKJA segelt schnell. Von Sturm ist nichts zu sehen.
Dann wird es dunkel. Der Wind frischt auf, die Wellen stellen sich auf zu kleinen Hügeln. Zum Glück sehe ich sie nicht. Aber ich spüre sie. Natürlich habe ich alles befestigt im Schiff, wie für jede Überfahrt. Aber dann fliegt das Spülmittel quer über den Abwasch ins Bett. Eine Tür knallt. Die Schere rutscht am Boden. Draussen im Cockpit pfeift der Mast, diesen Ton habe ich noch nie gehört. Ich muss mich festhalten, Stehen am Steuerrad geht nicht, nur Sitzen. Ich gurte meine Schwimmweste an die Steuersäule.
Krach. Mein Blick irrt über das Schiff. Was ist kaputt? Schliesslich sehe ich es: Die Windfahne der Windsteuerung fehlt. Eine Böe hat sie schlicht über Bord geblasen.
Natürlich hatte ich einen Plan. Bei zu viel Wind oder zu hohen Wellen würde ich beiliegen, das Schiff quer zum Wind drehen, in den Salon gehen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Und sollte auch das gefährlich werden, dann ist da noch der Jordan Drogue, der Seeanker, unter der Koje. Dummerweise hatte ich ihn nicht installiert, als weniger Wind blies.
Aber für die Windfahne habe ich keinen Ersatz. Soll ich mit dem elektrischen Autopilot die nächsten drei Monate segeln? Mit seinem Krach und Stromverbrauch? Und was, wenn er durchbrennt?
Innerhalb von Sekunden ändere ich meinen Plan: Bye, bye Tonga – zurück nach Australien.
Leichter gedacht, als getan. Die nächste Bucht, die ich bei hohen Wellen anlaufen kann, ist dreissig Seemeilen entfernt, Jervis Bay. Segeln also, 35 Knoten wahrer Wind, 28 Knoten scheinbarer Wind. Wind und Wellen schräg von hinten.
Ich erkenne mein Schiff nicht wieder. REYKJA bockt. Bei jeder grossen Welle versucht sie aus dem Kurs zu brechen. Der Autopilot kann nicht gegenansteuern, protestiert schrill pfeifend und stellt sich dann tot. Also Steuern von Hand. Die Fock knallt und flattert, wenn ich quer zum Wind stehe. Nicht auszudenken, jetzt auf das Vordeck gehen zu müssen, um den Spibaum zurück zu bauen. Ich versuche, mich durchzumogeln, Kurs und Fockstellung beissen sich. Es wird kalt. Nur zehn Sekunden das Steuerrad verlassen, um die lange Unterhose zu holen, und schon liegt Reykja quer zum Wind und die Fock flattert laut und bedrohlich.
Nach vier Stunden ist es geschafft. Die Fock halt gehalten, der Spibaum auch. Im Fenster der Sprayhood klafft ein Loch, meine Stirnlampe ist verschwunden. Selbst in der Bucht bläst der Wind so stark, dass REYKJA unter Motor nur mit 2 Knoten gegenan kommt.
Übrigens: Der wahre Wind war wohl nur gale, stürmischer Wind. In Böen blies Sturm, severe gale. «Storm» war nie. Aber ich bin ja deutschsprachig.